Standards

Maßstab allen gerichtlichen Handelns im Familienrecht ist das Kindeswohl. Dabei ist aus Kindersicht in der Regel eine enge emotionale Verbundenheit mit den zentralen familialen Bezugspersonen von herausragender Bedeutung. Streit zwischen diesen Erwachsenen belastet Kinder dagegen erheblich. Das gilt gleichermaßen für Konflikte zwischen den Eltern (§§ 1671, 1684 BGB) wie für Auseinandersetzungen zwischen Familie und Jugendamt bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung (§ 1666 BGB). Was Trennung und Scheidung betrifft, sind sich die Kinderkundler heute darin einig, dass der effektivste Beitrag zur psychischen Entlastung von Trennungskindern in einvernehmlichem Handeln ihrer Eltern besteht. Dem entspricht bei Kindeswohlgefährdung, alle staatlichen Interventionen so zu gestalten, dass sie neben ihrer Schutzfunktion zugleich dem kindlichen Bedürfnis nach familialer Verbundenheit bestmöglich Rechnung tragen.

Seit 2009 können Psychologische Sachverständige (SV) ausdrücklich beauftragt werden, auf „Herstellung des Einvernehmens zwischen den Beteiligten“ hinzuwirken (§ 163 (2) FamFG). Diese neue Aufgabenstellung wird gemeinhin als „lösungsorientierte Begutachtung“ bezeichnet. Da es sich jedoch weder um einen eindeutig definierten noch geschützten Begriff handelt, lässt sich an dieser Bezeichnung nur das angestrebte Ziel, nicht aber die Methodik des Sachverständigen erkennen.

Das hier vertretene Verständnis einer „systemisch-lösungsorientierten“ Begutachtung beruht auf einem ganzheitlichen und prozesshaft-dynamischen Familienbild – deshalb der Verweis auf „systemisch“ zur Unterscheidung von anderen, eher eigenschafts- oder merkmalsbezogenen Konzepten von Familie. „Systemisch-lösungsorientiert“ beschreibt somit ein grundlegendes Konzept von Psychologischer Begutachtung im Familienrecht, das über die Einigung hoch strittiger Trennungseltern weit hinausgeht und auf alle Fallkonstellationen anwendbar ist, für die das Gericht einen Begutachtungsauftrag erteilt. Dies Verständnis von Psychologischer Begutachtung wurde seit Mitte 1985 als elternorientiertes Vorgehen vielfach von Jopt gefordert und später als „lösungsorientierte Begutachtung“ (Bergmann, Jopt, Rexilius, 2002) ins Familienrecht eingeführt.

Nachfolgend werden jene Standards vorgestellt und erläutert, die einem systemisch-lösungsorientierten Gutachten zu Grunde liegen. 

Trennung & Scheidung

Dem Verständnis von Begutachtung als einem auf Elternbefriedung abzielenden „Vermittlungsauftrag“ korrespondiert ein Bild von der Familie, auch der Trennungsfamilie, das sich von früheren Vorstellungen grundlegend unterscheidet. Demnach ist Familie nicht länger nur der Name für eine besondere Gruppierung von Personen – bestehend aus Mutter, Vater und Kind. Aus systemischer Sicht handelt es sich hier um ein exklusives, dynamisches System wechselseitig aufeinander bezogener Einzelner. Auf dieser Grundlage basiert seit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 auch das Familienrecht. Seitdem sucht das Gericht bei strittiger Trennung nicht länger vorrangig nach dem „geeigneteren“ Elternteil, sondern bemüht sich zunächst um die Herstellung elterlichen Einvernehmens.

Hoch strittigen Trennungseltern zu vermitteln, dass sie trotz gescheiterter Paarbeziehung „als Eltern“ für ihr Kind weiterhin kooperieren sollen, ist jedoch leicht gefordert. Rational ist dieser Appell zwar richtig, „gefühlt“ ist vielen die Umsetzung in der Trennungskrise jedoch nahezu unmöglich. Das hat in erster Linie mit ihren zahlreichen Kränkungen, seelischen Verletzungen und vielen weiteren negativen Affekten und Gefühlen zu tun. Trotzdem gibt es keinen besseren Weg, um psychische Schadensbegrenzung für ihre Kinder zu betreiben. Um hoch strittige Eltern zu erreichen, verfügen systemisch-lösungsorientierte Sachverständige deshalb über eine Reihe besonderer Fertigkeiten und eine spezielle Methodik, damit ihre Befriedungsbemühungen nicht schon früh ins Leere laufen.

Grundhaltung des SV

Humanistisches Menschenbild

Der SV versteht ‚Trennung’ als eines der schwersten kritischen Lebensereignisse, die es zu bewältigen gilt. Viele Betroffene verfügen nur höchst unvollkommen über Kompetenzen zum konstruktiven Umgang mit dieser existentiell bedrohlichen Krisensituation. Dass dieser Mangel die Trennungsdynamik nachhaltig beeinflusst, bildet aus systemischer Sicht den Ausgangspunkt jeglicher Verhaltensbeurteilung.

Systemisches Familienverständnis

Aus systemischer Sicht bleibt für Kinder auch nach Trennung die emotionale Qualität ihrer Familie weiter bestehen. Oberstes Ziel des SV ist es deshalb, Konfliktpotentiale zwischen Eltern abzubauen, um sie wieder in die Lage zu versetzen, einvernehmlich kindorientierte Lösungen zu erarbeiten. Wo das nicht gelingt, versuchen Kinder, sich dem streitbedingten Stress zu entziehen (Coping). Dadurch sind sie häufig gleichermaßen aktiv Beteiligte im Trennungsprozess (etwa bei Umgangsverweigerung) wie Opfer der Unfähigkeit ihrer Eltern, sie von ihren Konflikten fernzuhalten.

Der SV aus systemischer Sicht

Der SV versteht auch seinen eigenen Arbeitskontext im Rahmen familiengerichtlicher Verfahren systemisch. Er sieht sich selbst nicht nur als Experten, der die Familie von außen beobachtet, sondern als vorrübergehend ins System der Angehörigen mit einbezogenen Fachmann, der sein psychologisches Wissen einerseits zur Aufklärung, andererseits als Gestaltungshilfe für Eltern einbringt. In diesem Rahmen forciert er Erfahrungs- bzw. Erprobungsmodelle bei der Lösungssuche, wobei, wenn erforderlich, selbst die gerichtliche Anhörung, noch zur Intervention genutzt wird: als letzte Chance, bis dahin nicht ausgeräumte Widerstände auf Elternseite mit Unterstützung des Gerichts möglicherweise doch noch aufzubrechen und in eine Kooperation zugunsten des Kindes zu überführen. Der systemisch-lösungsorientierte SV versteht sich in erster Linie als Gestalter und wird erst dann zum Entscheidungshelfer für das Gericht, wenn dieser Weg gescheitert ist.

Methodik

A. Methodische Prinzipien

Einbeziehung der Paarebene

Eine Besonderheit systemisch-lösungsorientierter Begutachtung besteht darin, dass die Paarebene in die Begutachtung mit einbezogen wird, auch wenn sie formal nicht Verfahrensgegenstand ist. In den meisten Fällen wird sie gleich zu Anfang bereits von den Elternteilen selbst eingebracht, was ihre persönliche Wichtigkeit bezeugt und ihre zentrale Bedeutung für eine nachhaltige Befriedung unterstreicht. Daher widmet sich der SV ihr sowohl bei den Einzelgesprächen als auch im gemeinsamen Elterngespräch. Erst danach geht er zur Elternebene und damit zum Verfahrensgegenstand ‚Streit ums Kind’ über.

Allparteilichkeit

Die subjektiven Sichtweisen der beiden Erwachsenen zur Trennung sind, obwohl meist höchst unterschiedlich, in der Regel beide wahr. Sie werden einerseits vom SV empathisch nachempfunden, gleichzeitig aber auch im Hinblick auf die Reaktionen, die sie beim Anderen auslösen, offen hinterfragt. Auf diese Weise werden die beidseitigen Überzeugungen, selbst Opfer zu sein und im Anderen den Täter zu sehen, aufgeweicht und damit einander zugänglicher gemacht. Dieses Vorgehen erfordert vom SV ein hohes Maß an Feinfühligkeit und Sensibilität. Es fällt nicht leicht, einerseits die Überzeugungen eines Elternteils zu achten und gleichzeitig der gegenteiligen Ansicht Geltung zu verschaffen. Dazu bemüht sich der SV um eine von Wertschätzung geprägte Arbeitsbeziehung. Diesen dialektischen Prozess bezeichnet man als „Allparteilichkeit“. Er darf weder mit einseitiger Parteinahme noch mit Neutralität verwechselt werden.

Trennungswissen über Erwachsene und Kinder

Zum einen klärt der SV das gescheiterte Paar über Typik und Besonderheiten von Trennungsverläufen auf Paarebene auf. Das soll die Überzeugung von der Einzigartigkeit und außergewöhnlichen Schwere des eigenen Falles relativieren. Zum anderen informiert er es als Eltern über die zahlreichen Unterschiede zwischen Trennungskindern und Kindern aus intakten Familien.

Dazu zählen:

  • Elternstreit als psychische Bedrohung
  • Gleichzeitiges Bekenntnis zu beiden Eltern
  • Situative Emotionalität und Parteilichkeit
  • Instrumentalisierung (Beeinflussbarkeit)
  • Loyalitätskonflikte
  • Entfremdung (Ablehnung eines Elternteils) als Strategie zur Konfliktreduktion
  • Ent-Emotionalisierung von Eltern-Kind-Beziehungen
  • Kindliche Leugnung von Ich-Beteiligung
  • Psychosomatik und Entwicklungsstörungen
  • Kinderaussagen in Spannungskontexten

Ziel dieser Aufklärung: Eltern sollen die typischen Ängste, Befürchtungen und sonstige Belastungen eines „Trennungskindes“ kennen und verstehen lernen. Dabei zeigt der SV ihnen – häufig zum ersten Mal – auf, dass sie viele Verhaltensweisen nicht nach den Regeln der Erwachsenenlogik deuten dürfen (z. B. Kindeswillen, Entfremdung), sondern aus Kindersicht verstehen lernen müssen. Zugleich wird ihnen damit verdeutlicht, dass die kindliche Perspektive auf Familie sich auf ein Sicherheit und Geborgenheit vermittelndes, einzigartiges und in der Regel nicht austauschbares Beziehungsnetzwerk bezieht. Das soll ihnen helfen, gemeinsam auf den Weg verantwortungsbewussten Elternhandelns zurückzufinden.

Verzicht auf psychologische Testverfahren

Die bekannten psychologischen Testverfahren sind ungeeignet, zur Beantwortung familiengerichtlicher Fragestellungen effektiv beizutragen. Wissenschaftlichen Gütekriterien zum Nachweis ihrer Nützlichkeit genügen sie bestenfalls eingeschränkt. Insbesondere fehlt ihnen jegliche Validität, d. h. es bestehen keine nachweislichen Zusammenhänge zwischen Testbefunden und gerichtlicher Fragestellung. Da ein systemisches Familienverständnis zugrunde gelegt wird, sind Persönlichkeitsunterschiede zwischen Familienmitgliedern allerdings ohnehin nur von untergeordneter Bedeutung. Im diagnostischen Fokus stehen interaktive Beeinflussungsprozesse auf allen Seiten, Kinder eingeschlossen.

 

B. Begutachtungsverlauf

Einzelgespräche

Sie stehen am Anfang des Aufbaus einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung. Dazu werden die Gespräche üblicherweise in der jeweiligen häuslichen Lebenswelt geführt. Dort werden nach Möglichkeit auch die Kinder kennengelernt. Lebt ein Elternteil mit neuem Partner zusammen, wird dieser im Verlauf der Begutachtung später mit einbezogen. Das gilt ggf. auch für andere Angehörige von Bedeutung (z. B. Großeltern).

Kinderexploration

Häufig spricht der SV mit dem Kind in einem positiv besetzten Umfeld außerhalb der Elternhäuser (Eiscafé, Fastfood-Restaurant, Spielplatz). Als verständnisvoller und interessierter Gesprächspartner zeigt er dem Kind, dass er sich in seine psychische Lage gut einzufühlen versteht, sagt ihm Hilfe und Unterstützung zu, zeigt aber auch den Sinn von Regeln und Orientierung auf. Er entlastet es von jeglicher Verantwortung für den Elternkonflikt, zeigt ihm ggf. aber auch seine eigenen Anteile an der Konfliktdynamik auf, beispielsweise bei Kontaktabbruch von älteren Kindern, wenn sie dem abgelehnten Elternteil gegenüber abwertend auftreten. Seine im Kontakt mit dem Kind gesammelten Erkenntnisse bringt der SV anschließend in die Gespräche mit den Eltern ein, um sie unter Berufung auf diese ganz konkrete Erfahrung zur kindgemäßen Gestaltung der Nachtrennungsfamilie anzuhalten und sie dabei zu unterstützen.

Interaktionsbeobachtung

Da Eltern in den Einzelgesprächen ihre subjektive Sicht der familialen Verhältnisse und seiner Ursachen zum Ausdruck bringen, ist ihre Darstellung stets hochgradig interpunktionsgesteuert, d. h. subjektiv verzerrt. Meist stehen sich ihre Schilderungen diametral gegenüber, das betrifft häufig auch ihre jeweilige Sicht der Eltern-Kind-Beziehungen. Aussagen und Verhalten des Kindes selbst sind dagegen keineswegs automatisch zugleich Spiegelbilder seiner tatsächlichen Meinungen und Gefühle gegenüber den Eltern. Trennungskinder sind selten unbeeinflusst, das betrifft ihren Lebensmittelpunkt ebenso wie ihre Beziehungswünsche in Bezug auf den nicht betreuenden Elternteil. Beide Themen sind häufig mit völlig konträren elterlichen Erwartungen an ihr Kind verbunden, womit dessen Verhalten im familiengerichtlichen Rahmen eher Ausdruck von Instrumentalisierung denn Indiz authentischer Wünsche ist.
Deshalb sucht der Sachverständige für die Interaktionsbeobachtung nach einem möglichst natürlichen Umfeld. Dafür bieten neben den elterlichen Wohnungen auch Spielplätze, Spaziergänge, Eisdielen, Fastfood-Restaurants u. ä. m. – Orte, an denen das Kind einem Elternteil allein begegnet – häufig treffende Rahmenbedingungen. Im lebensnahen Umgang von Kind und Elternteil – verbal, vor allem aber auch körpersprachlich – wird meist schnell deutlich, ob der geäußerte Kindeswillen tatsächlicher Beziehungsqualität entspricht oder erheblich davon abweicht. Insofern sind systemisch-lösungsorientiert angelegte Interaktionsbeobachtungen von erheblichem diagnostischen Wert. Zwar liefern weder Übereinstimmung noch Diskrepanz zwischen Wort und Verhalten allein aus sich heraus hinreichende Erklärungen, aus fachlicher Sicht sind solche Widersprüche jedoch regelmäßig wertvolle Hilfen für die Konsensbemühungen eines Sachverständigen.
Daneben hat eine systemisch angelegte Interaktionsbeobachtung aber auch noch eine zweite, prozessdiagnostische Seite. Über die Dokumentation von Umgangskontakten per DVD, Fotos oder das Anhören mitgeschnittener Gespräche soll dem anderen Elternteil ein Eindruck vom Verhalten seines Kindes vermittelt werden, wie er es aus dessen Erzählungen nicht kennt. Dies Vorgehen zielt darauf ab, Vorbehalte zu erschüttern und einen neuen Vertrauensaufbau zwischen den Konfliktparteien anzustoßen. Interaktionsbeobachtung aus systemisch-lösungsorientierter Sicht ist somit häufig Diagnostik und Intervention zugleich.

Gemeinsames Elterngespräch

Dies ist das zentrale methodische Element jeder systemisch-lösungsorientierten Begutachtung, hier werden die unterschiedlichen subjektiven Wahrheiten beider Eltern zusammengeführt und einer Annäherung nähergebracht. Dabei bewegen sich die Ex-Partner in aller Regel zunächst ausschließlich auf der Paarebene, ihre Kinder spielen – in diesem oft ersten persönlichen Kontakt nach langer Zeit – zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Wird die Paarebene ausgeklammert, können einvernehmliche Regelungen meist nicht erreicht werden oder erweisen sich als wenig tragfähig, denn die Paarebene lässt sich bestenfalls unterdrücken, eine wirkliche „Erledigung“ ist, wenn überhaupt, ohne Dialog der Eltern ausgeschlossen. Dabei hat der SV keine „Angst vor Konflikten“. Eltern, die nicht um ihre Kinder streiten, brauchen keinen Gutachter.

Was die Elternebene betrifft, liegt der Fokus des SV zunächst in der Sensibilisierung der Eltern für die Hoffnung ihres Kindes auf Streitabbau und Einvernehmen. Dazu werden unterschiedliche Wege zur Gestaltung der Nachtrennungsfamilie aufgezeigt und diskutiert, die ggf. durch eigene Vorschläge noch modifiziert werden. Dabei versteht der SV sich mal als Sprachrohr des Kindes, mal als psychologisch geschulter „Übersetzer“ seines geäußerten Willens, handelt es sich hierbei doch häufig lediglich um kindliche Anpassungsleistungen an das umgebende Spannungsfeld hochstrittiger Eltern (Coping).

Sofern keine Einigung erzielt werden kann, wird dem Gericht auch im Rahmen systemisch-lösungsorientierter Begutachtung abschließend eine gutachterliche Empfehlung vorgelegt. Was aufzeigt, dass auch die systemisch-lösungsorientierte Begutachtung letztlich in einer förmlichen „Begutachtung“, d. h. in einer Empfehlung des SV für das Gericht münden kann. Diese Empfehlung wird den Eltern bereits im Elterngespräch als pragmatische Lösung vorgestellt und begründet. So bleibt ihnen bis zuletzt offen, doch noch auf einen gemeinsamen Weg einzuschwenken.

  1. Beantwortung der gerichtlichen Fragestellung

Einigung – Sachverständige Stellungnahme

Haben sich die Eltern geeinigt, wird dies dem Gericht anschließend schriftlich mitgeteilt. Dabei wird, je nach Fragestellung, kurz auf die Aspekte Lebensmittelpunkt, Kontaktgestaltung (Umgang) und Elternverantwortung (Sorgerecht) eingegangen. Zudem bietet sich der SV den Eltern als Ansprechpartner an, damit sie bei zukünftigen Konflikten um ihr Kind den Weg zu Gericht vermeiden können. Danach folgt eine knappe Würdigung des Einigungsverlaufs, verbunden mit einer Einschätzung ihrer Stabilität. Abgeschlossen wird das Verfahren durch übereinstimmende Erledigungserklärung. Eine Anhörung findet nur ausnahmsweise statt.

Keine Einigung – Schriftliches Gutachten

Wenn die Elternkonflikte trotz Begutachtung fortbestehen, verbleibt das Kind im familialen Spannungsfeld, ganz gleich, welche Intervention seitens des Familiengerichts erfolgt. Das kann auch der systemisch-lösungsorientierte SV nicht verhindern. In diesem Fall wird ein schriftliches Gutachten erstellt. Der SV formuliert seine gerichtlichen Empfehlungen so, dass zumindest die zukünftige Annäherung „als Eltern“ offengehalten wird. Beispielsweise in der Form, dass unter dem Aspekt ihrer Erziehungseignung eine Aufspaltung der Eltern in „Verlierer“ und „Gewinner“ bestmöglich vermieden wird. Oder indem zumindest die Möglichkeit geschaffen wird, dass die emotionale Beziehung eines Kindes zum nicht betreuenden Elternteil nicht völlig zum Erliegen kommt und zerstört zu werden droht (durch Einbindung des Jugendamtes oder eines Erziehungsbeistands).

Im Hinblick auf die streitverschärfende Wirkung schriftlicher Gutachten verzichtet der lösungsorientierte SV bewusst auf seitenlange Wiedergaben der subjektiven Wahrheiten von Mutter und Vater, die ohnehin nur unterschiedlich ausfallen können. Statt dessen stehen Ausführungen zur familialen Konfliktstruktur, zur Lebenssituation der Eltern, ihren Ressourcen und Kompetenzen im Mittelpunkt. Ebenso erfolgen Erörterungen zur seelischen Lage und psychischen Belastung des Kindes im fortbestehenden Elternkonflikt. Zudem wird für das Gericht aufgezeigt, woran eine Einigung gescheitert ist.

Mündliches Gutachten

Um – gerade auch im Fall gescheiterter Einigung – keine weitere Konflikteskalation zu begünstigen, bietet der SV im FamFG-Verfahren ggf. ein mündlich vorgetragenes Gutachten an, das die Prinzipien Mündlichkeit und Beschleunigung aufgreift. In diesem Fall wird meist schon bei der Beauftragung ein Anhörungstermin bestimmt, zu dem der SV sein Gutachten mündlich erstattet. Die Dokumentation seiner Ausführungen erfolgt über das Anhörungsprotokoll oder als richterlicher Vermerk. Auf Wunsch des Gerichts oder eines Beteiligten erfolgt ggf. im Nachhinein eine Verschriftlichung.

Kindeswohlgefährdung

Das systemische Familienverständnis des SV gilt im Rahmen von Verfahren nach § 1666 BGB gleichermaßen auch für alle in ihrem Wohl gefährdeten Kinder. Im Mittelpunkt stehen dabei zunächst Gespräche und Interaktionsbeobachtungen zur genauen Diagnose von Schädigung bzw. Gefährdungszustand sowie deren familialer Ursachen, wobei in die Beurteilung stets auch einschlägige Voten von den Fachkräften der Jugendhilfe und ggf. weiterer Personen aus dem Lebensumfeld des Kindes einbezogen werden. Es folgt eine Ressourcenprüfung in Bezug auf die Wiederherstellbarkeit elterlicher Erziehungskompetenz bzw. der dafür ggf. erforderlichen Hilfen.
Insgesamt steht dabei auch hier die Gestaltung spannungsarmer, beziehungserhaltender Lösungen im Blick, soweit das Schutzbedürfnis des Kindes diese erlaubt. Familie ist auch für Kinder, die auf Grund erheblicher Erziehungsdefizite ihrer Eltern nicht zu Hause aufwachsen können, von großer emotionaler Bedeutung. Deshalb beachtet der SV bei allen zum Schutz des Kindes erforderlichen Eingriffsempfehlungen stets das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Auch im Konflikt zwischen Herkunfts- und Pflegefamilie bemüht er sich, analog zur Trennungssituation, um die Gestaltung möglichst spannungsarmer Verhältnisse zwischen allen Beteiligten, um dem Kind bestmöglich Loyalitätskonflikte zu ersparen und zu verhindern, dass sein für unvermeidbar erachtetes Aufwachsen außerhalb der Ursprungsfamilie nicht im Dauerkonflikt um das richtige „Zuhause“ mündet.

 

Runder Tisch

Zentrales methodisches Element in Verfahren nach § 1666 BGB ist der ‚Runde Tisch’, zu dem der SV nach Abschluss seiner Recherchen alle mitwirkenden Fachkräfte, später unter Hinzuziehung der betroffenen Eltern, einlädt. Hier werden die unterschiedlichen Einschätzungen und Perspektiven transparent zur Diskussion gestellt, mit dem Ziel, aus einem bis dato häufig kontradiktorischen Setting (Helfersystem unter Führung des Jugendamtes vs. Familie) eine fachkundige Verantwortungsgemeinschaft zu gestalten, in der alle dasselbe Ziel im Blick haben – das Wohl des Kindes.

 

Kindeswohlgefährdung und Fremdunterbringung

Müssen im Rahmen eines familiengerichtlichen Verfahrens Kinder von ihrer Familie getrennt werden, wird stets mitbedacht, inwieweit diese zum Schutz des Kindes getroffene Maßnahme ihrerseits durch Vereinzelung und emotionale Deprivation sein Wohl gefährden könnte. Daher ist einem Beziehungsabbruch zwischen Kind und Ursprungsfamilie während der Fremdunterbringung vorzubeugen und Umgangskontakte in einem Rahmen zu gewährleisten, der die emotionalen Bedeutung der Eltern-Kind-Bindung berücksichtigt (Eingewöhnungszeiten, Besuchsintervalle, Umgangs- und Telefonkontakte). Zudem bleibt die Rückkehroption grundsätzlich immer bestehen, ihre Überprüfung gehört zum methodischen Standard jedes systemisch-lösungsorientierten SV, was immer auch die Suche nach Chancen und Perspektiven für eine Verbesserung der Erziehungsfähigkeit der Herkunftsfamilie umfasst.

Die Unterbringung in Heim oder Pflegefamilien setzt voraus, dass die Einrichtung/Pflegefamilie sich als Ergänzung zur Ursprungsfamilie versteht, damit die familiale Identität des Kindes nicht mehr als unvermeidbar beeinträchtigt wird. Eine Pflegefamilie, für die der SV sich ausspricht, sieht das Kind als Kind seiner Herkunftsfamilie, die zu ihm gehört und der deshalb seitens jeder Ergänzungsfamilie Platz in Leben und Herzen des Pflegekindes eingeräumt werden muss. Das schließt aber natürlich in begründeten Fällen auch die dauerhafte Fremdunterbringung nicht aus.

 

Literatur

Behrend, K. (2011). Das Gutachten als Lösungshilfe bei Sorge- und Umgangsrechtsstreitigkeiten nach Trennung. In: K. Menne & M. Weber (Hrsg.), Professionelle Kooperation zum Wohle des Kindes. Hinwirken auf elterliches Einvernehmen im familiengerichtlichen Verfahren (FamFG). Weinheim: Juventa.

 

Behrend, K. & Jopt, U. (2009). Kinder sind Kinder! Plädoyer für ein lösungsorientiertes Vorgehen auch bei Kindeswohlgefährdung. In: Müller-Magdeburg, C. (Hrsg.). Verändertes Denken – zum Wohle der Kinder. Festschrift für Jürgen Rudolph. Baden-Baden: Nomos. S. 153–163.

 

Bergmann, E., Jopt, U. & Rexilius, G. (Hrsg.) (2002). Lösungsorientierte Arbeit im Familienrecht. Intervention bei Trennung und Scheidung. Köln: Bundesanzeiger Verlag.

 

Jopt, U. (1987). Nacheheliche Elternschaft und Kindeswohl – Plädoyer für das gemeinsame Sorgerecht als anzustrebenden Regelfall. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, 875–886.

 

Jopt, U. (1992). Im Namen des Kindes. Plädoyer für die Abschaffung des alleinigen Sorgerechts. Hamburg: Rasch und Röhring.

 

Lehmann, M. (2012). Der systemische Gutachter? Die systemisch fundierte „lösungsorientierte Sachverständigentätigkeit“ im Familienrecht. KONTEXT 43, 1, 1–15.

 

Zütphen, J. (2010). Psychologische Begutachtung im Familienrecht. Effekte entscheidungsorientierter vs. lösungsorientierter Begutachtung auf die Trennungsfamilie; Erfahrungen und Ansichten aus Elternsicht. Bielefeld: Universität Bielefeld. Abteilung für Psychologie und Sportwissenschaft.

Konzeption:

Prof. Dr. Uwe Jopt
Dr. Katharina Behrend
Dipl. Psych. Dr. Mike Lehmann
Dipl. Psych. Kristina Lurse

Die Standards systemisch-lösungsorientierter Begutachtung können hier als Broschüre bestellt werden oder hier als PDF heruntergeladen werden.